Exit(ing) racism: Rassismuskritik

Es ist ein ganz normaler Tag in Berlin. Ich steige in die U-Bahn Richtung Alexanderpatz. Bin zu faul, etwas zu lesen, also beobachte ich die Menschen um mich herum. In der Regel passiert nichts Besonderes.

Aber dieses Mal ist etwas anders. Während der Fahrt steigt ein junger Mann ein. Er setzt sich zu einer Gruppe von anderen Fahrgästen. Er setzt seine Kopfhörer auf, die Umgebung scheint ihn nicht zu interessieren. Normales Verhalten für Berlin…

Das Besondere ist, dass die anderen Fahrgäste ihr Verhalten deutlich verändern. Einige von ihnen setzen sich wenige Sekunden später auf einen anderen Platz, andere mustern den jungen Mann. Mein Eindruck ist, dass die anderen Fahrgäste sich misstrauisch bis feindselig verhalten. Offensichtlich beobachten einige den jungen Mann.

Es ist recht unwahrscheinlich, dass sie den Mann persönlich kennen. Wodurch wird dieser Stimmungswechsel denn ausgelöst?

Nun, es gibt noch ein offensichtliches Merkmal: Die Hautfarbe des jungen Mannes ist dunkler, sie unterscheidet sich von der aller anderen Fahrgäste, die allesamt weiß sind.

Warum Rassismus?

Ich gebe zu, die Sensibilität für das Thema kam nicht aus heiterem Himmel, sondern durch einen Buchtipp meines Freundes, der ohne weiteren Kommentar meinte: „Lies das mal!“.

Es geht um dieses Buch: Tupoka Ogette. exit RACISM. 4. Auflage, Januar 2019. ISBN 978-3-89771-230-0.

Frau Ogette ist Antirassismustrainerin und beschreibt in ihrem Buch, wieso Rassismus ein besonders wichtiges Thema in Deutschland ist. Die Lektüre ist schwere Kost, denn das in meinem Kopf installierte Bild des Rassisten ist verbunden mit Stereotypen wie rechtsradikale Menschen, die in bösester Absicht gegen „ausländische“ Mitbürger zum Teil mit Gewalt vorgehen. Dieses Bild ist nicht verkehrt. Es verdeckt jedoch den Blick auf das, was Frau Ogette als „systemischen Rassismus“ bezeichnet.

Auf ihrer Webseite schreibt sie: „Obwohl Rassismus in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft wirkt, ist es nicht leicht, über ihn zu sprechen. Keiner möchte rassistisch sein, und viele Menschen scheuen sich vor dem Begriff. Um eine Differenzierung zwischen bewusst rassistischer Motivation und der verinnerlichten, oft unbewussten und systemischen Rassismus zu treffen, sprechen wir von ‚rassistischer Sozialisierung‘ versus ‚Rassist*in sein’“ (Quelle: www.tupokaogette.de).

Mit anderen Worten: obwohl ich wahrlich kein Rassist sein will, werde ich mich aufgrund meiner Sozialisierung als weißer Deutscher unbewusst rassistisch verhalten – und andere natürlich auch.

Nein, ich doch nicht!

Die intellektuelle Auseinandersetzung ist das eine. Das andere ist jedoch, wenn ich selbst Teil des Geschehens werde.

Zurück zu meinem Erlebnis: die oben beschriebenen Eindrücke werden im Buch als „Mikro-Angriffe“ bzw. „Mikro-Beleidigungen“ (Seite 55) beschrieben. Ob die Situation tatsächlich durch rassistische Motive ausgelöst wurde, kann ich jedoch nicht beurteilen.

Weit wichtiger ist aber, was die Situation bei mir auslöste: natürlich fiel mir die dunklere Hautfarbe des jungen Mannes – unter ausschließlich weißen Fahrgästen – auf. Als reiner Akt der Beobachtung ist diese Kenntnisnahme gänzlich wertfrei. Aber was für Gedanken schossen mir zeitgleich durch den Kopf:

Ein Fremder! Den muss ich beobachten! Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?

Nichts davon ist etwas, was ich auch nur ansatzweise leben will. Aber die Reflektion darüber hat mir aufgezeigt, dass ich eine Prägung gegen Fremde und hier speziell gegen Schwarze (1) habe. Der letzte Gedanke zeigt auf, woher die Prägung stammt. Es handelt sich beim Titel „Wer hat Angst vorm …“ um ein Kinderspiel. Natürlich kommt mir dann auch ein zweites Spiel in den Sinn: „Schwarzer Peter“.

Zusammenfassung

Ja, ich habe eine rassistische Prägung und bin ein Beispiel für die Auswirkungen des systemischen Rassismus. Schön ist das nicht. Ich bemerke Schuldgefühle, Scham, …

Aber es macht keinen Sinn, in Schuld zu verharren. Dies hilft niemandem. Was ich möchte, ist, Menschen auf Augenhöhe entgegenzutreten. Ich möchte deren Hautfarbe wahrnehmen, ohne in die oben beschriebenen Mechanismen zu fallen. Ich möchte den Rassismus aus dem Kopf bekommen.

Warum? Weil Rassismus Schwarzen Menschen (1) und People of Color(2) Leid zufügt. Ich kann dies nur dadurch verhindern, indem ich meine Prägung immer wieder auf den Prüfstand stelle, alte Bilder aus dem Kopf werfe und mich rassismuskritisch verhalte.

Challenge accepted!

(1) Zur Erläuterung des Begriffs „Schwarze*r“ möchte ich gerne aus dem Buch zitieren: „Der Begriff wird in jedem Kontext mit großem ‚S‘ geschrieben. Dadurch soll sichtbar gemacht werden, dass es sich nicht um das Adjektiv ’schwarz‘ handelt […], sondern um eine politische Selbstbezeichnung. […] Der Begriff bezeichnet Menschen, die Rassismuserfahrung gemacht haben.“ (Seite 77)

(2) People of Color (PoC): Der Begriff „bezieht sich […] auf alle rassifizierten Menschen, die in unterschiedlichen Anteilen über afrikanische, asiatische, lateinamerikanische, arabische, jüdische, indigene oder pazifische Herkünfte oder Hintergründe verfügen. Er verbindet diejenigen, die durch die Weiße Dominanzkultur marginalisiert sowie durch die Gewalt kolonialer Tradierungen und Präsenzen kollektiv abgewertet werden.“ (Seite 78 und http://www.migrazine.at/artikel/people-color-als-solidarisches-b-ndnis)